Soziale Lage

Die Grundvoraussetzungen in den Aufnahmeländern waren sehr unterschiedlich. Dennoch lassen einige Aspekte vergleichende Betrachtungen zu. Das gilt für die materiellen Grundlagen der Flucht, die Lage auf dem Wohnungsmarkt im Aufnahmeland und die Situation auf dem Arbeitsmarkt.

Als ein Aspekt steht die finanzielle Ausstattung der Geflüchteten im Fokus. Die Wenigsten waren in der Lage, rechtzeitig ausreichende Mittel ins Ausland zu transferieren. In der Regel hatten die antisemitischen Sondersteuern und Devisengesetze dafür gesorgt, dass die Geflüchteten mittellos im Aufnahmeland ankamen.1 Meist musste sogar der Emigrationsvorgang selbst von Hilfsorganisationen, Verwandten oder sogar Behörden des Deutschen Reiches bezuschusst werden, wie das Beispiel der Familie Edinger aus Hann. Münden zeigt.2 Lediglich die Gebrüder Meyer aus Hann. Münden hatten es rechtzeitig geschafft, Teile des Eigentums in Ausland zu transferieren. Allerdings um den Preis der öffentlichen Brandmarkung durch einen Steuersteckbrief und der drohenden Verhaftung. Die Unternehmer flüchteten mit ihren Ehefrauen noch gerade rechtzeitig in die Niederlande. Von dort gelangten sie später nach England, Brasilien und in die USA. Viele ihrer Familienangehörigen, selbst Töchter und Söhne, hatten diese Möglichkeiten nicht. Sie mussten sich zunächst unter prekären Verhältnissen in ihren Aufnahmeländern durchschlagen.

"Vorzeigegelder" verschärften die ohnehin prekäre Situation

Die Regierungen wussten um die Mittellosigkeit der Geflüchteten. Sie verlangten für die Ausstellung der Visa daher entweder den Nachweis von Rücklagen, die belegbare Unterstützung durch Verwandte oder die Bezahlung von Vorzeigegeldern. Diese Beträge, die auf verschiedene Art und Weise erhoben wurden, verschlimmerten die finanzielle Situation der Geflüchteten zusätzlich. So stellte z.B. die englische Regierung für die Auswanderung nach Palästina nur denen ein Zertifikat der Kategorie A aus, die in der Lage waren, 1.000 britische Pfund vorzulegen. Am Ende fehlten dann die Mittel, um noch Reserven für den Neustart nach dem Haavara-Verfahren zu transferieren.3

So blieb den Geflüchteten nichts anderes übrig, als jeden verfügbaren Job anzunehmen, unabhängig von Alter und Gesundheit. Da die Einstiegsgehälter in der Regel nicht zum Lebensunterhalt reichten, mussten bisweilen mehrere Beschäftigungsverhältnisse eingegangen werden. Der Arbeitsmarkt in den einzelnen Aufnahmeländern war sehr unterschiedlich ausprägt. Die dem kaufmännischen Bereich zugehörigen Flüchtlinge wurden mit ihnen unbekannten Anforderungsprofilen konfrontiert. Suchte man in einigen Ländern landwirtschaftlich Geschulte, waren es in anderen Hauswirtschaftskräfte oder technisch und handwerklich Ausgebildete.

Mit Aushilfsjobs die schweren Anfangsjahre überstanden

Kauf- und Geschäftsleute wurden selten gebraucht. Sprachschwierigkeiten waren für alle Geflüchteten ein Problem, egal ob sie in New York, Buenos Aires oder Kapstadt ankamen. Ohne eine möglichst zügige Lösung war es schwer, Arbeit zu finden. Sprachkurse wiederum kosteten Geld, so dass jüdische Gemeinden oder Angehörige aushelfen mussten. Die als Bankkauffrau ausgebildete Anneliese Rothstein aus Göttingen beschrieb die Situation:

"Nach meiner Ankunft in Südafrika im Jahre 1936 war es mir unmöglich, eine meinen Kenntnissen entsprechende Stellung zu finden, da meine englischen Sprachkenntnisse den Anforderungen nicht genügten. Ich war daher gezwungen, im Mai 1936 eine Stellung als Dienstmädchen anzunehmen ... Infolge der schlechten Bezahlung nahm ich Ende 1937 eine Stellung als Kellnerin im Restaurant der "Jewish Guild" an."4

Es folgten Jobs als Kassiererin in einem Restaurant und Empfangsdame in einem Hotel. Erst 1948 erhielt Anneliese Rothstein eine Arbeit als Büroangestellte, die halbwegs ihren Qualifikationen entsprach.

Sprachprobleme erschwerten auch die Integration

Besonders gravierend waren die Folgen der sprachlichen Defizite für die Schülerinnen und Schüler. In der Regel sehr kurzfristig aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen, mussten sie nun nicht nur neue soziale Kontakte aufbauen, sondern auch den Schulalltag bewältigen. Renate B., damals 12-jährig, aus Hann. Münden schilderte später die Problematik so:

"Wir verließen Münden mitten im Semester und kamen im Januar 1939 in California an. Ich besuchte alsbald die Schule, kam aber in die Klasse für zurückgebliebene Kinder, weil ich damals fast kein Englisch sprach. So ging mir mehr als ein Jahr verloren."5

Diese Schwierigkeiten blieben nicht ohne Folgen. Viele der geflüchteten Jugendlichen schafften die avisierten Schulabschlüsse und Studiengänge nicht. Berufswünsche konnten nicht verwirklicht werden, eine komplette Neuorientierung wurde notwendig.

Leben in Armut nach der Flucht

Schlimmer traf es die Älteren und Kranken. Zahlreiche Geflüchtete klagten über physische und psychische Nachwirkungen ihrer Odyssee. Männer waren während ihrer Haft nach dem Novemberpogrom 1938 schwer misshandelt worden. Krankheiten und Verletzungen konnten aber ohne ausreichende  Sozialversicherung nicht behandelt werden. Trotz z.T. schwerster Beeinträchtigungen mussten die Betroffenen ihren Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit verdienen. Diejenigen, die dazu nicht in der Lage waren, wurden häufig durch jüdische Hilfsorganisationen unterstützt.

Neben die Probleme der Arbeitsbeschaffung, der ungewohnten klimatischen Verhältnisse und ihrer Folgekrankheiten trat die Herausforderung, auf teils angespannten Wohnungsmärkten eine Bleibe für die Familie zu finden. In Metropolen und regionalen Zentren wie New York oder Haifa war es daher von Vorteil, bereits Emigrierte zu kennen, die nützliche Kontakte hatten.

In manchen Stadtteilen bildeten sich regionale Herkunftszentren

Sie konnten bei der Wohnungssuche behilflich sein. Auf diese Weise entstanden in einigen Städten Wohnviertel, in denen fast ausschließlich deutschsprachige Jüdinnen und Juden lebten. Als Beispiele hierfür mögen Washington Heights6 in New York und Haifa angeführt werden. In die Stadt am Mittemeer zogen in wenigen Jahren so viele Geflüchtete aus Göttingen und Umgebung in ein Wohnviertel, dass man sich vermutlich beinahe täglich auf der Straße begegnete. Aus Hann. Münden, Bremke, Göttingen und Dransfeld waren verfolgte Jüdinnen und Juden nach Haifa geflüchtet. Diese Konzentration traf vor allem - wie schon beschrieben - auf Washington Heights zu, aber auch in die New Yorker Stadtteile Bronx und Queens sowie nach Buenos Aires, dort allerdings nicht auf ein Quartier beschränkt, emigrierten viele Jüdinnen und Juden aus der Region um Göttingen.


Fußnoten

  1. Darstellung und Beispiele auf der entsprechenden Seite im Kapitel "Verfolgung".
  2. Vgl hierzu die Unterseite "Fallbeispiele - Edinger".
  3. Vgl. Unterseite "Europa/ Palästina".
  4. Erklärung Anneliese Rothsteins im Rahmen ihres Entschädigungsverfahrens vom 05.10.1956, NLA-HStAH, Nds. 110 W Acc. 60/94 Nr. 114 I Bl. 4/5.
  5. Renate B. in einer Aussage vom 06.08.1956, NLA-HStAH, Nds. 110 W Acc. 14/99 Nr. 123222 Bl. 4.
  6. Vgl. Unterseite "Nordamerika", Abschnitt New York. 

Vorherige Seite: "Illegalität"

Nächste Seite: Fallbeispiele