Deutsches Reich

Als Beratungsstelle zu allen Fragen der Auswanderung war der Hilfsverein der deutschen Juden die wohl wichtigste Hilfsorganisation im Deutschen Reich. Um die Finanzierung der Emigration und um Kontakte zu den verantwortlichen Stellen der NS-Bürokratie kümmerten sich die zuständigen Stellen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD).

Die RVJD war eine "Zwangsvereinigung" aller jüdischen Gemeinden und Organisationen, die von den Nationalsozialisten 1939 zwecks besserer Kontrolle angeordnet worden war. Im Herbst 1933 war sie von den jüdischen Gemeinden zunächst als Reichsvertretung der deutschen Juden gegründet worden, um eine gemeinsame Stimme gegenüber den Nationalsozialisten zu haben. Aber ab 1935 sollten "deutsch" und "Jude" schon nicht mehr zusammenpassen, die Vereinigung musste ihren Zusatz in "der Juden in Deutschland" ändern. Die NS-Machthaber wollten dadurch die Trennung von Juden und "arischen" Deutschen hervorheben.

Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland

In den ersten Monaten nach dem 30. Januar 1933 befasste sich ein zentrales Gremium der RVJD, der Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau, noch sehr begrenzt mit dem Thema Emigration. Die Verantwortlichen setzten sich hauptsächlich dafür ein, die antijüdischen Maßnahmen, die Wirtschaft und Berufsleben betrafen, durch Verhandlungen und Eingaben abzufedern. Ihre Politik dokumentierte die Organisation in ihren Monats- und Jahresblättern. Dort kamen in- und ausländische Autorinnen und Autoren zur Sprache, die sich mit der Analyse der politischen Lage der deutsch-jüdischen Bevölkerung befassten. Spätestens mit den "Reichsbürgergesetzten" im September 1935 verlagerten sich zwangsläufig die Schwerpunkte in der Politik der RVJD. Die Ausgrenzung durch die "Nürnberger Gesetze" und die Notlage vieler jüdischer Familien durch die Boykottmaßnahmen führten dazu, dass die Organisation nun emigrationsrelevante Themen in den Fokus nehmen musste. In einem Bericht der amerikanischen Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee (Kurzform hier: JDC) von 1935 wird angeführt, dass sich bereits zwei von drei neu gegründeten Komitees der RVJD mit dem Thema "Auswanderung" befassten.

Eines der wichtigsten Themen: die Berufsumschichtung

Zunächst stand die berufliche Vorbereitung junger Menschen im Zentrum der Aktivitäten. Da Palästina und Südamerika - und dort hauptsächlich Argentinien - bis 1937 neben den USA die Hauptaufnahmeländer waren, mussten die Emigrierenden auf die dortigen Verhältnisse eingestellt werden. Akademische und kaufmännische Berufe waren weniger gefragt, gesucht wurden land- und hauswirtschaftlich Tätige. Zur entsprechenden Ausbildung unterstützten die in der RVJD zusammengefassten Organisationen reichsweit zahlreiche Umschulungsbetriebe. Der Betrieb der beruflichen Umschichtungs-Stätten und die soziale Fürsorge für die verarmte, vor allem ältere jüdische Bevölkerung, stellte für die Organisation eine große logistische und finanzielle Herausforderung dar. Der Etat für 1938 wurde z.B. auf 3.500.000 RM veranschlagt, plus 350.000 RM an Altlasten aus 1937.Die "freiwillige" Mittelbeschaffung vor Ort durch die Gemeindeumlagen brachte aber nur 1.500.000 RM ein, die Flucht von über der Hälfte der deutschen Jüdinnen und Juden in den Jahren zuvor machte sich auch in der Finanzlage der RVJD bemerkbar. Umso wichtiger war daher die Unterstützung durch amerikanische Hilfsorganisationen, durch sie kamen insgesamt über 2.800.000 RM zusammen.

Ausländische Unterstüzung hauptsächlich für die Emigration

Allein die JDC hatte 1937 ca. 650.000 $ an die RVJD überwiesen2, bis 1941 stockte die Organisation die Beträge noch weiter auf. Zwei zentrale Probleme beschäftigten die internationalen Finanziers. Zum einen sollte eine individuelle Unterstüzung auf Grund der hohen Zahl der jüdischen Bedürftigen vermieden werden, man befürwortete wegen besserer Planungsmöglichkeiten die Gruppenauswanderung. Diese Prämisse erwies sich auf Dauer als nicht praktikabel. Zum anderen war die RVJD ab 1939 direkt dem Reichsicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin unterstellt, was für die Partner in den USA ein erhebliches Problem darstellte. Solange Verfolgte mit den Hilfsgeldern das Land verlassen konnten, war der Nutzen der Spenden für alle einzahlenden amerikanischen jüdischen Gemeinden aber noch sichtbar. Ob und wie ihre Unterstützung im Deutschen Reich selbst eingesetzt wurde, konnte von den Hilfsorganisationen aber nicht kontrolliert werden.

Der Hilfsverein der Juden in Deutschland

Der 1901 in Berlin gegründete Hilfsverein der deutschen Juden war ursprünglich mit Hilfsleistungen für russisch-jüdische Zu- und Durchwandernde befasst. Mit Beginn der NS-Zeit nutzte er seine internationalen Kontakte zur Unterstützung der Auswanderungsbestrebungen der jüdischen Einwohner des Deutschen Reiches. Nach seiner Umbenennung 1933 arbeiteten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bis zur Zwangsauflösung 1939 daran, denjenigen Verfolgten eine Möglichkeit zur Flucht zu verschaffen, die aus finanziellen oder anderen Gründen Schwierigkeiten bei der Umsetzung ihrer Pläne hatten.

1939 wurde der Hilfsverein in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwangsintegriert. Die Arbeit des Vereins bei der Umsetzung der jüdischen Emigration fand damit praktisch unter staatlicher Aufsicht statt. Insgesamt ca. 90.000 jüdischen Verfolgten verschaffte der Hilfsverein die Möglichkeit, das nationalsozialistische Deutschland zwischen 1933 und 1941 zu verlassen. Dabei arbeitete er eng mit ausländischen Hilfsorganisationen, wie dem Council of German Jewry in England, dem JDC oder der HIAS in den USA zusammen. Als Beispiel für die Arbeit des Hilfsvereins der deutschen Juden können die Bemühungen zur Emigration von Alfred Nassauer aus Hann. Münden herangezogen werden.

Hilfe für einen jüdischen KZ-Häftling

Alfred Nassauer wurde 1898 im hessischen Wehen, heute eine Stadt im "urbanen Raum" Wiesbaden, geboren. Die Familie Nassauer war seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts im Ort ansässig.3 1924 kam der Kaufmann nach Hann. Münden, wo er 1928 Rosa Müller heiratete. Bald nach der Hochzeit zog das Ehepaar wieder nach Wehen, Alfred Nassauer fand dort eine Beschäftigung als Viehhändler. Rosa Nassauer kehrte kurz nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten mit ihrer 1931 geborenen Tochter Ruth nach Hann. Münden zurück. Ihr Ehemann Alfred folgte erst im Mai 1937. Warum die Eheleute in diesem großen zeitlichen Abstand wieder nach Südniedersachsen kamen, ist nicht bekannt. Ein Jahr später, im Mai 1938, wurde die Ehe geschieden.

Offenbar stand Alfred Nassauer auch mit dem politischen Widerstand in Hann. Münden in Verbindung. Im Juni 1938 wurde er verhaftet, abgeurteilt und in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingewiesen. Seine Haftstrafe von einem Jahr saß er im Lager ab, in dieser Zeit schuftete er in einem Arbeitskommando für die Firma Siemens.4 Betreut wurde Alfred Nassauer während der Haft vom Hilfsverein der Juden in Deutschland. Schon Anfang August 1938 beantragte die Auswandererberatungsstelle Hannover, die zuständige Bezirksstelle des Hilfsvereins, im Auftrag des Verurteilten bei der Polizeibehörde Hann. Münden ein bereinigtes Führungszeugnis. Die Vorlage eines solchen Dokuments wurde von den Konsulaten einiger Länder für den Erhalt eines Visums vorausgesetzt. Auch die Gestapo Hildesheim war aktiv in die Bemühungen involviert, den Häftling ins Ausland abzuschieben und unterstützte die Bestrebungen des Hilfsvereins. In einem Brief erkundigte sich ein Mitarbeiter der Gestapo im Dezember 1938 beim Bürgermeister nach dem Stand der Bereitstellung des Führungszeugnisses. Dieser hatte aber schon zwei Wochen nach dem Schreiben des Hilfsvereins Vollzug gemeldet. Das Zeugnis war am 16. August 1938 mit der Bitte um Aushändigung an den Häftling an die Kommandantur des KZ Sachsenhausen geschickt worden.


Schließlich genehmigte auch der Regierungspräsident in Hannover die Ausstellung des Dokuments, allerdings nicht ohne die Laufzeit des Führungszeugnisses auf drei Monate zu befristen. Diese Frist dürfte einige Male verlängert worden sein, denn bis August 1939 war es noch nicht gelungen, Alfred Nassauer aus Deutschland herauszubringen. Vom Ende seiner Haftzeit liegt ein Brief des KZ-Insassen vor, der wiederum an den Bürgermeister in Hann. Münden gerichtet war. Darin bittet Nassauer um die Ausstellung eines Reisepasses. Offensichtlich waren alle erforderlichen Dokumente beschafft und die Schiffspassage bereits gebucht, denn die Übergabe des Reisepasses stand am Ende der Kette vorzulegender gültiger Papiere. Zu diesem Zeitpunkt, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, war der Bürgermeister Hann. Mündens für die Passausstellung aber nicht mehr zuständig. Er schickte die ihm zugegangenen Dokumente umgehend an den nun verantwortlichen Beamten des Landkreises Parchim, in dem das KZ Sachsenhausen lag.

Schicksal Nassauers bleibt ungeklärt

Ob Alfred Nassauer die Flucht mit Unterstützung des Hilfsvereins letztlich gelang, ist uns bis heute nicht bekannt. Sowohl die energische Arbeit des Hilfsvereins im Sommer 1939 als auch das Fehlen jeglicher Hinweise auf den ehemaligen Häftling in den Opferlisten der Gedenkstätte des KZ-Sachsenhausen, der Shoah Database in Yad Vashem und dem Gedenkbuch des Bundesarchivs lassen aber auf ein Überleben Alfred Nassauers schließen. Ungewöhnlich für einen ehemaligen KZ-Häftling – in diesem Fall sogar als rassisch und politisch Verfolgter – ist allerdings, dass keine Entschädigungsansprüche aus der Nachkriegszeit vorliegen. Dafür gibt es mehrere mögliche Erklärungen. Entweder legte Alfred Nassauer keinen Wert mehr auf Kontakte mit deutschen Behörden, was durchaus häufiger vorkam, oder er war bis Ende der 1940er Jahre, als die sogenannte Wiedergutmachung anlief, bereits im Ausland verstorben. Auch sind noch nicht alle Möglichkeiten für eine weiterführende Recherche ausgeschöpft.


Fußnoten

  1. Kurzberichte der RVJD 1933-1938, Center for Jewish History New York - LBI AR 221 Box 1 Folder 15.
  2. Antwortschreiben von Joseph C. Hyman, Vorstand des New Yorker Büros des American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), an Milton S. Grafman, Vorsitzender der Temple Adath Israel Gemeinde aus Lexington, Kentucky, vom 19.01.1938. Anlass des Schreibens  war der Wunsch der Gemeinde auf Förderung der in Not geratenen Familie Israel in Duderstadt. AJJDC Archive N.Y., Reel 11 No. 271.
  3. Informationen zur Familie Nassauer in Wehen unter www.wehen-taunus.heinzwilhelmi.com/Cultusgemeinde.html.
  4. Schreiben der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen an den Verfasser vom 15.03.2011.

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