Edinger

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Familie Edinger, Hann. Münden – Rosenstraße 10

Nach der Volksschule besuchte der in Hann. Münden geborene Karl Edinger das Gymnasium. Er legte dort die Mittlere Reife ab und begann eine Lehre zum kaufmännischen Angestellten. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs meldete er sich freiwillig zum Militär, geriet 1915 in französische Kriegsgefangenschaft und kehrte erst 1920 nach Hann. Münden zurück. Für seinen Einsatz erhielt er später das Kriegsverdienstkreuz. Seit 1921 war Karl Edinger Mitinhaber des Lederwarengeschäfts Heinrich Edinger, das 1895 von seinem Vater gegründet worden war.

Bis 1933 ein erfolgreiches Geschäft geleitet

Nach dessen Tod wurden Karl, Kurt und Oskar Edinger, der in Berlin-Charlottenburg lebte, zu je einem Drittel Eigentümer des Wohnhauses Rosenstraße 10, Karl Edinger übernahm 1929 die alleinige Leitung der Lederwarenhandlung . Nach eigener Einschätzung führte der jüdische Kaufmann „bis zum Jahre 1933 ein gut gehendes Geschäft". Kurt Edinger hatte nach dem Schulabschluss und einer Lehre zum kaufmännischen Angestellten zunächst beim Vater und später im Geschäft des älteren Bruders ausgeholfen. Er erhielt 250 RM sowie freie Wohnung und Verpflegung, ein klasssiches Angestelltengehalt. Zusätzlich erhielt er eine Provision für Geschäftsabschlüsse, die er als Reisender tätigte. Insgesamt betrug sein Gehalt ca. 350 RM monatlich.

Am Tag des nationalsozialistischen Boykotts gegen die jüdischen Geschäftsleute am 01. April 1933 standen vor dem Geschäft Karl Edingers Posten der SA, um mögliche Kunden am Betreten des Ladenlokals zu hindern. Die Scheiben wurden beschmiert und Schilder antisemitischen Inhalts aufgestellt.1 Diese von höchster Stelle angeordnete Aktion traf nicht nur jüdische Geschäftsleute, sondern auch Ärzte und Anwälte. „Wilde" Aktionen, meist von unteren Parteigliederungen durchgeführt, waren von der Parteileitung zwar untersagt, wurden aber häufig stillschweigend akzeptiert. Karl Edinger schien den „offiziellen" Boykott relativ gut abfedern zu können. Obwohl sein Gewerbeertrag infolge der Weltwirtschaftskrise auf gut ein Drittel des Gewinns von 1929 gesunken war, stiegen die Einnahmen von Ende 1933 bis Ende 1934 wieder von 4.100 RM auf 5.530 RM. Es gelang dem Geschäftsmann sogar, das Gewerbekapital auf 20.600 RM aufzustocken.

Als Unschuldiger in Schutzhaft eingeliefert

Der Geschäftsgewinn brach dann 1935 vollkommen ein. Nur noch 1.270 RM standen am Ende des Geschäftsjahres zu Buche, so dass die Freibetragsgrenze unterschritten war und keine Gewerbesteuer hätte abgeführt werden müssen. Karl Edinger hatte zum Ende des Jahres Deutschland aber schon verlassen. Der Anlass für den Gewinneinbruch lag fast genau ein Jahr zurück. Am 11. September 1934 wurde der Kaufmann verhaftet und in das Göttinger Gerichtsgefängnis überführt. Diese Maßnahme, die weitere Unschuldige traf, war als Vergeltung für einen Anschlag auf die „Hitler-Eiche" auf dem Hann. Mündener Wall durchgeführt worden. Edinger wurden dabei seine ehemalige Zugehörigkeit zum Reichsbanner und sein Vorsitz der örtlichen Zweigstelle des Centralvereins Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) zum Verhängnis. Für den Bürgermeister Mündens galt Karl Edinger „als derjenige Marxist, der dauernd die SPD und den Reichsbanner mit erheblichen Geldmitteln unterstützt hat." Der CV war den NS-Herrschenden besonders verhasst. Seine Mitglieder traten für die Assimilierung der deutsch-jüdischen Bevölkerung ein und setzten sich 1933, im Gegensatz zu zionistischen Vereinigungen, für einen Verbleib im Deutschen Reich ein.

1935 das Geschäft verkauft und nach Brasilien geflüchtet

Nach der Freilassung Karl Edingers gingen die Geschäfte nach eigenen Angaben „gegen Null". In einer „wilden" Boykottaktion beschmierten Anhänger von SA und HJ Ende August 1935 die Scheiben des Geschäfts mit Teer. Zwar kritisierten örtliche Parteileitung und Verwaltung diese Aktion, sie führte aber letztlich dazu, dass der jüdische Geschäftsmann aufgab und die Lederwarenhandlung einen Monat später an Rudolf Müller „unter dem wahren Wert" verkaufte. Der Käufer übernahm neben der Ladeneinrichtung auch das Warenlager, das nach Einschätzung des Mündener Bücherrevisors Hans Waldenburg einen Wert von 12-15.000 RM gehabt haben soll. Karl Edinger erhielt dafür 7.000 RM. Welche Auswirkungen der NS-Boykott gegen die jüdischen Geschäftsleute hatte, zeigt die Entwicklung der Umsätze seit Mitte der 1930er Jahre. Rudolf Müller, der aus Fulda stammte und gleich mit seiner Familie in die Rosenstraße 10 umgezogen war, konnte den Gewinn schon ein Jahr nach Geschäftsübernahme verdoppeln. Der Umsatz stieg gar von 8.014 RM im Jahr 1935 auf 43.243 RM in 1936. Bis 1939 gelang es ihm nochmals, die Umsätze auf ca. 56.000 RM anzuheben. Erst die Kriegseinwirkungen machten sich negativ für den Geschäftsverlauf bemerkbar. Zwischen 1942 und 1945 musste der Kaufmann den Betrieb wegen seines Kriegsdienstes geschlossen halten.

Das Eigentum Karl Edingers blieb in Hann. Münden zurück

Karl Edinger ließ mit seiner Flucht im Herbst 1935 zahlreiche Vermögenswerte in Hann. Münden zurück. So bestanden bei der Dresdner Bank in Hann. Münden noch zwei Konten und eine Hypothek mit zusammen knapp 12.500 RM. Die Kreis- und Stadtsparkasse Münden verwaltete auf einem Sparkonto 9,59 RM und die Konversionskasse für Deutsche Auslandsschulden meldete dem Finanzamt am 05. Mai 1942 aus Berlin:

„Hiermit zeigen wir an, dass sich auf dem bei uns geführten ... Konto ein Guthaben von 290,69 RM befindet".2

Über diesen Betrag hatte der Kaufmann durch die Filiale in Rio de Janeiro bis dahin noch verfügen können. 1942 wurde das Konto nach der 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes durch das Finanzamt Hann. Münden eingezogen, ebenso wie der zurück gelassene Hausrat. Zusammen mit dem Lederwaren-Geschäft hatte Karl Edinger auch das Hausgrundstück an den Kaufmann Rudolf Müller verkauft. Er bat dabei einen langjährigen guten Geschäftsfreund, den Prokuristen Heinrich Berger, um Vermittlung.

Berger wusste, dass sich Müller, Angestellter der Firma Kircher-Makorn in Fulda, selbstständig machen wollte. Nach Aussage des Geschäftsfreundes lebte Oskar Edinger schon in Rio de Janeiro und war nach den o.g. Vorfällen bemüht, seine Brüder so schnell wie möglich nach Brasilien zu holen. Insgesamt erhielten Edingers 27.000 RM für das Gebäude, das Geschäft samt Warenlager und das Inventar. Auch Teile des Hausrats, die nicht mit nach Brasilien genommen werden konnten, gingen an Müller. Der Kaufvertrag wurde am 26. September 1935 bei Notar Dr. Graupe abgeschlossen. Für die Zeit des Abschlusses, Mitte der 1930er Jahre, war der Kaufpreis durchaus akzeptabel.

Kaufgeld für das Hausgrundstück auf Auswanderersperrkonto eingezahlt

Da Müller einige Hypotheken ablöste, die er in Rechnung stellen konnte und  für das Warenlager nur einen Teil des geschätzten Wertes zahlte, kam Karl Edinger aber nie in den Besitz der vereinbarten Summen. Zudem musste er den Restbetrag, wie auch 5.000 RM für einen weiteren Hausverkauf in der Burgstraße 20, auf ein Auswanderersperrkonto bei der Dresdner Bank einzahlen. Von diesem Geld sollten die Edingers ihre Flucht aus Hann. Münden finanzieren. Am 22. November 1935 hatte Karl Edinger bei der Polizeiverwaltung in Hann. Münden die Freigabe von je 50 RM pro Familienmitglied als Unterstützung zu den Reisekosten der geplanten Auswanderung nach Brasilien beantragt. Der Bürgermeister genehmigte den Betrag und stellte später die entsprechenden Bescheinigungen aus. Das Schreiben enthält den handschriftlichen Hinweis: „Die Abfahrt erfolgt Samstag von hier." Vor Reisebeginn mussten das Umzugsgut verstaut und verschickt, Gepäck für die Reise ausgewählt und die Schiffsfahrkarten gekauft werden. Das Visum für Brasilien hatten Verwandte besorgt, die auch die geforderten Garantien in Höhe von 200 $ auslegten.

Umzugsgut konnte noch rechtzeitig verschifft werden

Die Passage für fünf Personen (über 3.000 RM) war beim Französischen Verkehrsbüro GmbH in Berlin eingelöst worden. Die Speditionsfirma Gläser und Herzberg aus Berlin übernahm den Auftrag, das Umzugsgut per Zugwaggon von Münden nach Hamburg zu transportieren und dort auf das Schiff zu verladen. Insgesamt 12 Kisten, ein Verschlag (Liftvan), vier Koffer und zwei Fahrräder schaffte das Umzugsunternehmen in die Hansestadt. Für Transport und Versicherung bezahlte Karl Edinger 520 RM. Als besonderes Problem erwies sich die Forderung der brasilianischen Behörden nach Vorlage eines sogenannten Vorzeigegeldes von ca. 750 RM. Außerdem fielen fast 600 RM an Zollgebühren an. Nach den schon getätigten Ausgaben für die Überfahrt sah sich der Geschäftsmann außer Stande, diese Beträge aufzubringen.

Im November 1935 von Hamburg nach Rio geflüchtet

Die Deckung der Kosten übernahm der jüdische Kaufmann Walter Meyer aus Hann. Münden, der sich in den Pariser Vorort La Varenne–St. Hilaire in Sicherheit gebracht hatte, dort eine Filiale der Firma Awuko aus Hann. Münden leitete und noch über entsprechende Mittel verfügte. Im November 1937 hatte sich die Situation Walter Meyers in Frankreich rapide verschlechtert. Er schrieb Karl Edinger nach Rio und bat um die Rückzahlung der ausgelegten 823,55 US-$, da es geschäftlich „für uns sehr schwer ist, weil wir ja wieder von ganz vorn anfangen müssen." Am Samstag, den 24. November 1935, war Karl Edinger mit seiner Ehefrau Paula und den Kindern Günther und Ursula sowie Kurt Edinger per Bahn von Münden nach Hamburg gereist. Dort hatten sie einige Tage Aufenthalt in einem Hotel, da ihr Schiff erst mit Verspätung ablegen konnte. Am 27. November stach die „Auriguy", Schiff einer französischen Linie mit Sitz in Le Havre, von Hamburg aus in See und erreichte Brasilien nach knapp einem Monat am 24. Dezember 1935.

Familie Edinger ließ sich in Rio de Janeiro nieder, sie hatte zunächst mit erheblichen sprachlichen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Der Druck erhöhte sich dadurch, dass für die 12 und 14 Jahre alten Kinder Schulgeld zu zahlen war. Außerdem beschränkte die brasilianische Regierung 1941, nach Kriegseintritt des Landes auf Seiten der Alliierten, die berufliche Betätigung für Einwanderer aus Deutschland. Aus diesen Gründen sah sich Karl Edinger erstmals gezwungen, bei einem Freund, Hilario Pinto de Oliveira, für drei Jahre ein Darlehn von jeweils 500 $ aufzunehmen.

Der Kaufmann musste sich mehrfach Geld leihen

Dann erkrankte Paula Edinger 1944 unheilbar. Die Behandlungs- und Pflegekosten zwangen den Geschäftsmann, sich erneut Geld zu leihen. Selbst die Kosten der Beerdigung seiner 1946 verstorbenen Ehefrau mussten zunächst Verwandte übernehmen. Das Einkommen Karl Edingers war bis 1944 so gering, dass er in den ersten neun Jahren der Emigration von Steuerabgaben befreit war. Erst Mitte der 40er Jahre besserte sich die wirtschaftliche Situation, nachdem der Kaufmann als Teilhaber bei einer Büstenhalter-Fabrik in Rio de Janeiro einstieg. Im Zeitraum 1945 bis 1956 lagen die stark schwankenden jährlichen Einnahmen des Kaufmanns im Schnitt bei 100.000 Cruzeiros, damals ca. 5.000 US-$. Erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt gelang es Karl Edinger, so viel zu verdienen, dass er einen ruhigen Lebensabend hätte verbringen können. Karl Edinger verstarb aber bereits 1963 in Rio de Janeiro im Alter von nur 67 Jahren.

Situation von Bruder Kurt Edinger noch prekärer

Die Lebensumstände in der Emigration waren für Kurt Edinger noch problematischer als für seinen Bruder Karl. Nach eigenen Angaben traf er „vollkommen mittellos" in Südamerika ein. Nachdem er zunächst erfolglos versucht hatte, für seinen Bruder Spielzeugwaren zu verkaufen und als Reisender Geschäftskontakte zu knüpfen, zog er 1940 nach Sao Paulo um, da er das tropische Klima in Rio gesundheitlich nicht vertrug. Durch bakterielle Infektionen war Kurt Edinger zunächst an einem offenen Beinleiden erkrankt, das erst nach drei Monaten langsam abzuheilen begann. Dann bekam er einen Zuckeranfall, der mit teuren Medikamenten behandelt werden musste, für die der Angestellte nicht die nötigen Mittel besaß.

Nach der Übersiedlung ließ er sich in der Rua Samambaia 602 in Sao Paulo nieder und fand eine Betätigung bei der Firma Norton-Meyer S.A. Eine Schleifmittelfirma, die von den ebenfalls aus Hann. Münden geflüchteten Brüdern Fritz und Erwin Meyer gegründet und in den Konzern Norton eingegliedert worden war. Dort war der Auswanderer zunächst als Arbeiter, später als Bürogehilfe tätig. Da seine Verdienstspanne zwischen 1944 und 1950 zwar von 700 Cruzeiros auf 2.200 Cruzeiros anstieg, damit aber kein ausreichender Lebensunterhalt zu bestreiten war, versuchte sich Kurt Edinger als Selbstständiger. Er gründete 1950 eine Schnellbesohlanstalt, kam allerdings noch 1953 lediglich auf die Hälfte seines letzten Angestellteneinkommens. Seine Zuckerkrankheit führte zu häufigem Arbeitsausfall, so dass die Firmengründung eine kurze Episode in seinem Leben blieb. Sein Glück war, dass er nach Aufgabe der Besohlanstalt in sein vorheriges Beschäftigungsverhältnis wieder aufgenommen wurde.

Erst Entschädigung aus Deutschland sicherte den Lebensunterhalt

Aufgrund der körperlichen Beschwerden, ein ärztliches Attest von 1953 bescheinigte ihm eine Arbeitsunfähigkeit von 50 Prozent, wurde er im Archiv der Firma zur Betreuung der Firmenkartei eingesetzt. Mit Beginn des Jahres 1958 verfügte der Angestellte über ein Einkommen von 6.600 Cruzeiros, was ihn noch immer als gering Verdienenden auswies. Bis 1960 erhöhte Norton-Meyer seine Bezüge auf knapp 14.000 Cruzeiros. Erst durch die Ende 1960 einsetzende Wiedergutmachung konnte der Lebensunterhalt gesichert werden. Zu Beginn der 1940er Jahre hatte Kurt Edinger in Sao Paulo Ilse Glaser kennen gelernt. Die beiden heirateten 1944. Wie sein Bruder, war der Kaufmann brasilianischer Staatsbürger geworden, im Gegensatz zu Karl Edinger beantragte Kurt aber in den 1950er Jahren die Repatriierung. Ob er sich ernsthaft mit dem Gedanken einer Rückkehr nach Deutschland beschäftigte, ist unbekannt. Die gesundheitlichen und beruflichen Schwierigkeiten legen diesen Schluss aber nahe.


Fußnoten

  1. Angaben zur Familie Edinger auf Basis der Dokumente aus den Entschädigungsakten für Karl Edinger, NLA-HStAH, Nds. 110 W 91/92 Nr. 538/4 und Kurt Edinger, NLA-HStAH, Nds. 110 W Acc. 14/99 Nr. 129928.
  2. Konversionskasse für deutsche Auslandsschulden an den OFP Berlin-Brandenburg vom 04.05.1942, NLA-HStAH, Nds. 225 Hann. Münden Acc. 2003/098 Nr. 44 Bl. 11.

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